Durch die Strassen von New York - Teil 2

Es blendete ihn, als er die Augen öffnete. Offenbar war es schon später Morgen geworden. Der Junge rappelte sich auf, seine Glieder schmerzten wegen der Kälte. Er ging langsam aus der Gasse zurück in die Strasse. Sie war voller Leben und Hektik. Menschenmassen quetschten sich durch die Gehsteige. Keiner achtete auf den anderen, jeder wollte zuerst durch. Ähnlich sah auch der Verkehr aus. Stau, wo man nur hinsah. Jeder gab ein Hupkonzert, rückte dem Vorderen auf die Pelle, als ob er so bezwecken konnte, schneller vom Fleck zu kommen.

Dies war eine hektische und zielstrebige Welt geworden. Nichts liess einen mehr aus der Bahn werfen. Egal ob man krank ist oder ein gebrochenes Bein hatte, man musste so funktionieren wie normal. Tat man das nicht, wurde man als faul betrachtet, rausgeworfen und ignoriert. Das musste auch der Junge erfahren. Er wurde oft angerempelt und beleidigt. „Fauler Penner“ oder „dreckiger Nichtsnutz“ nannte man ihn, als er um etwas Geld für ein Brötchen bettelte. Also musste er auch heute wieder fasten.

So schlurfte er weiter durch die Strassen New Yorks auf der Suche nach einem Plätzchen, wo er Ruhe hatte von der übertriebenen Hektik. Er kam zum Central Park und ging hinein. Es war zwar nicht menschenleer, aber dafür ruhiger. Er erinnerte sich. Früher war er oft mit seinen Eltern hierher gekommen. Dann hatten sie sich unter einen Baum gesetzt und er selbst hatte vor ihnen den Jongleur gespielt. Er hatte immer drei rote glänzende Jonglier-Bälle bei sich gehabt. Er hatte damals geträumt, zum Zirkus zu gehen. Doch seit dem Unfall rührte er diese Bälle nie wieder an.

Er stand jetzt vor dem Baum, an dem seine Eltern am liebsten gesessen haben. All seine Blätter hatte ihm der Winter gestohlen. Nun stand er kahl und einsam auf der mit Schnee bedeckten Wiese. 

Sie hatten ihm erzählt, dass sie sich direkt unter diesem Baum zum ersten Mal getroffen hatten. Sie war gerade dabei gewesen, einen spannenden Krimi zu lesen, als plötzlich jemand über ihre Beine gestolpert war. Als sie aufgesehen hatte, hatte ihr ein Mann mit Fernglas um den Hals entgegen geschaut. Er hatte sich bei ihr entschuldigt und ihr erklärt, dass er gerade auf der Suche nach einer speziellen Vogelart gewesen war, die sich offenbar nur einmal im Jahr hier beobachten liesse.

Der Junge brach in Tränen aus. Zu hart war diese Realität. Wieso mussten seine Eltern sterben? Warum konnte der angetrunkene Fahrer nicht mit dem Taxi heim? Warum überlebte er? So viele Fragen und nur eine Antwort: Weil das Leben ihn hasste, dachte er sich. Er setzte sich unter den Baum, schlang seine Arme um seine Beine und versank leise schluchzend mit dem Kopf in seinen Knien. Ein eisiger Windstoss, dann spürte er wie er langsam von Schneeflocken eingedeckt wurde.

Er wusste nicht, wie lange er dort so gesessen hatte, doch auf einmal glaubte er eine Stimme zu hören. Langsam hob er den Kopf und etwas Schnee fiel von ihm herunter. Er erschrak beinahe, als er ein Mädchen vor sich stehen sah, ja es war schon fast eine junge Dame. Sie hatte einen besorgten Blick in ihren wunderschönen, meerblauen Augen und sie formte ihre kirschroten, vollen Lippen zu Worten: „Alles in Ordnung mit dir? Kann ich dir irgendwie helfen? Du siehst ja halb erfroren aus!“

Völlig erstaunt schaute er sie an. Sie hatte die schönste Stimme, die er jemals gehört hatte. Sie glich einem Engel. War sie ein Engel? Ist sie vom Himmel gekommen, um ihm zu helfen? Er versuchte zu antworten, doch erst jetzt bemerkte er, dass er vor Kälte kein Gefühl mehr im Gesicht hatte. Schlagartig fing er an, am ganzen Leibe zu zittern. Das Mädchen reagierte sofort: „Ach, du Ärmster! Komm ich bringe dich zu mir, dann können wir uns um dich kümmern.“ Und ohne ein Nein zu akzeptieren, nahm sie seine Hände und half ihm auf die Beine.

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